Leadership Magazin
Der Hernsteiner 2023 widmet sich dem Schwerpunkt "Wahlfreiheit". Warum kann Partizipation erschrecken? Weshalb mag unser Gehirn bewährte Denk-Spurrillen? Gehört mein Innenleben wirklich mir? Wann überfordert uns Freiheit?
Schwierige Entscheidungen können uns leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Der Kulturwandel zu echter Partizipation in Unternehmen verlangt uns einiges ab – doch er lohnt sich: Tipps und Tools für eine Kultur der Beteiligung.
Es verschiebt sich gerade eine tektonische Platte – langsam, aber immer schneller: In mehr und mehr Organisationen steht die Art, wie wir entscheiden, auf dem Prüfstand. Beteiligung wird selbstverständlich. Der Sinn der Arbeit muss verstanden sein, bevor sie erledigt wird. Und weil Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heute auf dem Arbeitsmarkt im Vorteil sind, kommen sie damit durch. Es war schon mal einfacher, Führungskraft zu sein.
Eine Veränderung wie diese läuft nie rund, auch wenn sie große Chancen birgt: die auf bessere Entscheidungen, mehr Sinn bei der Arbeit, mehr gemeinsam getragene Verantwortung. Es gibt dennoch zunächst Personen, die gewinnen, und solche, die verlieren, Ängste und Fehlentwicklungen, Best Practices und Geschichten aus Absurdistan.
Wer den Wunsch nach stärkerer Partizipation anspricht, erntet zunächst oft Überraschung: Viele Führungskräfte sind der ehrlichen Meinung, diesbezüglich schon alles zu tun, was geht. Und tatsächlich stehen ihre Türen (zumindest physisch) offen und sie besprechen ihre Entscheidungen mit ihren Teams. Was will man mehr?
Danach kommen die Erzählungen über Mitarbeitende, die wenig Interesse an mehr Freiraum zeigen. Dort und da drückt das ein Desinteresse am Unternehmen aus (und in manchen Branchen nimmt man das hin). Manche – gerade jüngere – Mitarbeitende erleben aber auch ihre persönliche Schrecksekunde der Partizipation: Entscheiden ist interessant, aber das hat ja Konsequenzen! Einige Führungskräfte schimpfen dann wie der Rohrspatz über die Generation Schneeflocke, andere quittieren es mit Schadenfreude.
Es vorher besser wissen und dann gleich kneifen: Damit nerven manche Neue ihr Umfeld gewaltig. Oft gibt es aber auch handfeste Gründe für ihre Zurückhaltung. Die Welt ist voller Chefs, die sich routinemäßig "für alles offen" deklarieren – aber wehe, eine Idee trifft irgendeinen Nerv. Zu "falschen" Entscheidungen können sie noch nach Jahrzehnten präzise Schuldzuweisungen liefern. Auch die Zusammenarbeit mit den Kollegen und Kolleginnen kann empfindlich leiden, wenn eine Neue oder ein Neuer zu rasch und zu selbstsicher einen ungewöhnlichen Gedanken äußert. Und viel Wertvolles geht verloren, einfach weil jemand beschließt, sich nicht noch einmal dem ganz speziellen Humor auszusetzen, der im Team gegenüber unerprobten Ideen herrscht.
Dennoch sind heute mehr Freiräume und bessere gemeinsame Entscheidungen für eine wettbewerbsfähige Unternehmenskultur unverzichtbar. Für alles andere ist auch unser Umfeld zu komplex geworden. Wie schaffen wir also den Kulturwandel?
Lasst uns ganz oben beginnen, bei den Eigentümerinnen und Eigentümern sowie den Geschäftsführungen. Manche ihrer Chefsessel sind Schleudersitze. Ihre Erwartungen setzen Prioritäten, machen Druck, schaffen Zonen mit geringen Freiheitsgraden. Lasst uns das offen kommunizieren und nicht beschönigen – dann wissen wir alle, woran wir sind.
Dann lasst uns unsere Chefinnen und Chefs verstehen. Stellen wir uns der Tatsache, dass die Aufrufe, eher als Coach zu agieren, für viele von ihnen eine Zumutung sind. Warum sollten wir glauben, dass jemand, der jahrzehntelang gerne gestaltet hat, mit 45 auf einmal nur mehr aus dem Hintergrund agieren will? Freiräume braucht es für alle. Fragen wir unsere Vorgesetzten, wo Nulltolleranz gesetzt ist und wo ihr Herzblut fließt. Fragen wir, wie eine bestimmte Entscheidung getroffen wird, zum Beispiel mit dem Tool "Delegation Poker" (siehe Grafik). Fragen wir, wo es Sinn ergibt, dass wir einander challengen. (Und geben wir uns nicht mit ihrer ersten Antwort zufrieden.)
Lasst uns "Psychological Safety" schaffen – eine Atmosphäre, in der überraschende oder unwillkommene Gedanken weder verspottet noch reflexartig abgewehrt noch abgestraft werden. Da müssen manche Führungskräfte zunächst einmal sich selbst stoppen. Und manche Überflieger jenen kantigen Humor zurückfahren, den sie (auf Kosten Dritter) so genießen ... Ja, was das angeht, ist die nächste Generation viel sensibler geworden. Oder waren wir ähnlich sensibel, hätten uns das aber nicht zu zeigen getraut?
Lasst uns den agilen Werkzeugkasten plündern. Der enthält einige sehr einfache, leicht anzueignende Ideen für rasche Entscheidungen mit viel Beteiligung. Unter anderem Evidence Based Decisions: Welche Daten und Fakten finden wir, um unsere Annahmen zu erhärten? Welche Indikatoren definieren wir, um frühzeitig zu reagieren und gegebenenfalls unsere Entscheidungen noch zu adaptieren?
Lasst uns eigenständiges Denken fördern – von der Frage "Wie würdest du entscheiden?" über die Challenge "Überzeugt mich, dass ...!" bis hin zu iterativen Experimenten: "Wenn wir bis Dezember 10 Kunden davon überzeugt haben, ..." Das funktioniert übrigens nur mit eigener Offenheit! Und in diesem Sinne ...
Und schließlich: Lasst uns gemeinsam immer wieder im Team überprüfen, wie gut Dialog und Zusammenarbeit gelingen, zum Beispiel mit den 5 einfachen Fragen des sogenannten Starfish: Was wollen wir in der Zusammenarbeit beibehalten wie bisher (= KEEP), wovon mehr tun (MORE), wovon weniger (LESS), was wollen wir nicht mehr machen (STOP) und welche neuen Dinge wollen wir starten (START)? Oder benutzen wir andere Methoden für regelmäßige Team-Reviews – es gibt mittlerweile viele davon. Es ist so simpel: Teams, die laufend die Qualität ihrer Zusammenarbeit überprüfen, erhalten auch eine hohe Qualität aufrecht.
Der Kulturwandel zu echter Partizipation verlangt uns einiges ab. Aber er lohnt sich, auch wenn das Ergebnis immer ein Mosaik aus autonomen und begrenzten Zonen bleibt. Denn interessante Menschen mögen (brauchen!) Freiräume und sinnvolle Arbeit. Und ich glaube, die wollen Sie in Ihrem Team.