Wie sieht es hinter der Fassade aus? Können Sie Ihren eigenen Wert anerkennen? Werden Sie von Selbstzweifeln geplagt? – Übrigens etwas ganz Natürliches. Schwierige Situationen fordern uns heraus und verändern uns. In jedem Fall sind unser Selbstwert und die innere Stärke wichtige Ressourcen. 5 Tipps aus der positiven Psychologie, wie Sie Ihren Selbstwert steigern.
Was heißt bei sich bleiben?
Vor einem halben Jahr kam Marlene, 48, zu mir in die Praxis – sie kannte mich aus einem Seminar zu Positive Leadership. Ich erinnerte mich an sie als dynamische Persönlichkeit, die genau dort angekommen zu sein schien, wo sie ihre Fähigkeiten als Führungskraft perfekt ausleben konnte. In unserer ersten Coaching-Einheit erzählte sie mir jedoch von ihrer Angst, dass die Fassade bröckeln könnte. Ihr Selbstwertgefühl entsprach bei Weitem nicht dem äußeren Bild der strahlenden HR-Leiterin.
Ein Blick hinter die Fassade
Im Jahr zuvor hatte sie die lange angestrebte Position übernommen. Ihr Vorgesetzter lobte sie, wie schnell sie sich eingearbeitet hätte. Immerhin leitete sie eine 18-köpfige Abteilung. Doch oft stellte sie ihr Tun infrage. Überhaupt, da sie einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgrund der wirtschaftlichen Lage verabschieden musste. Fragen quälten sie: Welchen Sinn hat meine Tätigkeit überhaupt? Wer bin ich, wenn ich das Mäntelchen der erfolgreichen HR-Leiterin ablege? Außerdem zweifelte sie daran, ob sie sich für ihre beiden Kinder – der Sohn ist 17, die Tochter 15 – ausreichend Zeit nahm. Immer wieder hatte sie das Gefühl, die beiden entglitten ihr; auch über die schulischen Erfolge hatte sie keinen Überblick mehr. Oft hörte sie nur noch: "Mama, chill mal, ich mach das schon!" Zeit für sich selbst gönnte sie sich kaum. Sie überlegte, eine Zeit lang in Krankenstand zu gehen, um mental wieder zu Kräften zu kommen. Doch wie sollte sie das ihrem Chef erklären? Sie wollte das positive Bild, das er von ihr hatte, nicht gefährden. So wie Marlene geht es vielen erfolgreichen Führungskräften. Wenn Menschen sich öffnen, zeigt sich: Es ist keineswegs selbstverständlich, dass wir punkto Selbstwert jederzeit aus dem Vollen schöpfen können.
Akzeptieren, was ist
Für Marlene hieß der erste Schritt aus ihren Zweifeln: Wahrnehmung und Akzeptanz dessen, was ist. Auch als Führungskraft darf sie einmal schwach sein, sich infrage stellen und nur ans Jetzt denken. Entspannung hatte sie bisher mit Faulenzen gleichgesetzt – nun sieht sie darin wertvolles Tun. Rasch fand Marlene wieder den Boden der Zuversicht. Es wurde ihr bewusst, dass sie in den letzten Monaten wenig aufmerksam gegenüber ihren eigenen Bedürfnissen und Gefühlen gewesen war. Es war für sie normal gewesen, Höchstleistung abzuliefern.
5 Tipps aus der positiven Psychologie, wie Sie Ihren Selbstwert steigern
Im Coaching bedienten wir uns des großen Werkzeugkoffers der Positiven Psychologie. Das PERMA-Modell von Martin Seligman, ihrem Begründer, bietet eine gute Grundlage, um das Selbstwertgefühl wieder aufzurüsten:
1. Positive Gefühle
Gefühle sind eng mit Gedanken verbunden. Lernen wir, unsere Gedanken zu beobachten und zu erkennen, welche unser Selbstwertgefühl stärken. So entlarven wir auch jene, die uns schwächen und uns in die Abwärtsspirale bringen: "In dieser Position ist eine Top-Leistung selbstverständlich. Nur wer hart an sich arbeitet, wird Lorbeeren ernten." Oder: "Ich darf mir keine Blöße geben. Wenn das Gerede erst einmal beginnt, bin ich unten durch." Mit ein wenig Übung können wir solche Gedanken durch andere ersetzen (siehe Gedankenblasen).
Ab sofort schrieb Marlene 3 besondere Momente des Tages in ein schön gestaltetes Büchlein. Es wurde ihr bewusst, dass sie ihren Fokus viel zu sehr auf negative Ereignisse gerichtet hatte. Schon bald wurde sie sensibler für kostbare Augenblicke: ein freundliches Lächeln, ein Kompliment für ihre Arbeit usw.
2. Engagement
Engagement ist eng mit unseren Stärken verbunden. Wenn ich in etwas gut bin, engagiere ich mich dafür auch gerne. Erkenne ich, wie und wo ich wirksam werden kann, stärkt das wiederum mein Selbstwertgefühl. Mit VIA (Values in action) liefert M. Seligman einen frei zugänglichen Fragebogen. Im ersten Schritt ermittle ich meine Top-3-Stärken. Im zweiten Schritt hinterfrage ich, wie ich meine Stärken am besten einsetzen und täglich leben kann. Marlene erkannte per VIA ihre Stärken; eine davon ist Humor. Ihre Sorge, dass bei einer Führungskraft Humor unprofessionell wirken könnte, sieht sie mittlerweile entspannter: Sie verlässt sich auf ihr Feingefühl und spürt, wenn ein kleiner Scherz die Atmosphäre auflockern kann.
3. Relationships
Beziehungen haben viel mit unserem Selbstwertgefühl zu tun. Umgeben wir uns mit Menschen, die uns hinunterziehen und an uns herummäkeln, oder umgeben wir uns mit solchen, die uns mit ihrer positiven Ausstrahlung anstecken? Solche "Positive Energizer" (zit. n. Kim Cameron) gilt es zu entdecken. Gemeinsam mit ihnen kann man Dinge weiterbringen.
Marlene erkannte, dass es im privaten Bereich einige Menschen gab, die ihr und ihrem Selbstwertgefühl nicht guttaten. Sie wollte den Kontakt zu diesen Menschen reduzieren. Vielmehr wollte sie darauf achten, welche Beziehungen sie stärken und wo eine Balance von "Geben" und "Nehmen" herrscht.
4. Meaning
Wo erleben wir wirklich Sinn? Wenn wir in unserem beruflichen Tun keinen Sinn mehr sehen, kann es passieren, dass das Selbstwertgefühl in den Keller rasselt. Welchen Fußabdruck möchten wir hinterlassen?
Marlene erkannte, wie wichtig ihre Tätigkeit war. Als HR-Leiterin trug sie eine große Verantwortung. Ihre Menschlichkeit und ihre Stärke, wertschätzend mit anderen umzugehen, eröffneten ihr die Erkenntnis in Hinblick auf ihr Wofür bzw. ihr Warum.
5. Accomplishment
Auch wenn die nächste Deadline nahe und der Zeitdruck groß ist und die To-do-Liste kein Ende nimmt: Wenn wir uns sofort nach Abschluss eines Projektes oder der Erreichung eines Zieles in etwas Neues stürzen, fühlen wir uns bald wie ein Hamster im Rad. Aber: Hamster feiern nicht. Wenn wir den Fokus auf das Erreichte lenken, gemeinsam oder alleine Erfolge feiern oder uns auch einfach nur ein paar Minuten freuen, stärkt das unser Wohlbefinden. Und damit das Gefühl, selbstwirksam und wertvoll zu sein. Dieser letzte Punkt gefiel Marlene besonders gut.
Schwierige Situationen fordern uns heraus und verändern uns. In jedem Fall sind unser Selbstwert und die innere Stärke wichtige Ressourcen, damit wir ganz bei uns bleiben können.
SELBSTBEWUSSTSEIN – SELBSTWERTGEFÜHL
Unter Selbstbewusstsein versteht man die Beobachtung und Reflexion des Selbst. Es dient als Entwicklungsbaustein für das Selbstwertgefühl: Den eigenen Wert anerkennen, sich selbst als "wertvoll" einschätzen, einen wertschätzenden Umgang mit sich selbst pflegen.
Literatur
Nathaniel Branden: Die 6 Säulen des Selbstwertgefühls. Erfolgreich und zufrieden durch ein starkes Selbst. München, 2011
Charles Pépin: Die Schönheit des Scheiterns. Kleine Philosophie der Niederlage. München, 2017
Markus Ebner: Positive Leadership. Wien, 2019
Kim Cameron: Positive Leadership: Strategies for Extraordinary Performance. San Francisco, 2012
Der Hernsteiner 2/2020 widmet sich dem Schwerpunkt "Emotionale Kompetenz". Wie surft man auf der Chaoswelle? Herz oder Kopf? Wie bleibt man bei sich? Woher kommen Gefühle und wohin gehen Gerüche? Überraschende Antworten und frische Impulse.